Was ist Autismus?

Autismus gehört lt. ICD 10 und DSM IV zu den tiefgreifenden Entwicklungsstörungen und wird derzeit unter dem Oberbegriff „Autismus-Spektrum-Störung“ (ASS) zusammengefasst:
Frühkindlicher Autismus nach Kanner, Asperger-Autismus, atypischer Autismus, nicht näher bezeichnete tiefgreifende Entwicklungsstörungen, Rett-Syndrom.

Die Häufigkeit für Autismus-Spektrum-Störungen (gesamt) liegt lt. neueren Studien bei
0,6 – 1 % (Baird et.al. 2006, Forbonne 2003)

Folgende Hauptmerkmale liegen bei einer Autismus-Spektrum-Störung vor:

Die sozialen Interaktionen sind auffällig

Der Mensch ist in seiner sprachlichen und/oder nicht-verbalen Kommunikation beeinträchtigt

Das Verhalten, die Interessen und Aktivitäten sind eher eingeschränkt und gleichförmig wiederkehrend

Autismus ist auch eine Störung der Wahrnehmungsverarbeitung. Autistische Menschen haben Probleme im Wahrnehmungsbereich, sie können sehen, hören, tasten, riechen, schmecken wie alle anderen Menschen auch, sie können diese Wahrnehmungen aber kaum zu einem Gesamtbild verarbeiten.

Weiters liegt eine Beeinträchtigung der kognitiven Funktionen vor:

Theory of Mind

  • Schwierigkeiten bei Emotionserkennung
  • Empathieschwäche
  • Schwierigkeiten bei der Perspektivübernahme
  • Verständnisschwäche für soziale Situation

Exekutive Funktionen

  • Defizite im Vorausplanen
  • Defizite bei der Handlungsplanung und zeitlichen Strukturierung
  • Einschränkung der Flexibilität
  • Initiierungsschwäche

Zentrale Kohärenz

  • Bruchstückhafte Informationsverarbeitung
  • Detailorientierung
  • Kontexterfassungsschwäche
  • Schwierigkeiten, Sinn und Bedeutung zu erfassen

Diagnosekriterien:
(Quelle: Bölte: Autismus, Spektrum, Ursachen, Diagnostik, Interventionen, Perspektiven, 1. Auflage 2009, Seite 38/39)


ICD-10 Forschungskriterien für (frühkindlichen) Autismus (F84.0)

A. Vor dem dritten Lebensjahr manifestiert sich eine auffällige und beeinträchtigte Entwicklung in mindestens einem der folgenden Bereiche:

  1. Rezeptive oder expressive Sprache, wie sie in der sozialen Kommunikation verwandt wird.
  2. Entwicklung selektiver sozialer Zuwendung oder reziproker sozialer Interaktion
  3. Funktionales oder symbolisches Spielen.

B. Insgesamt müssen mindestens sechs Symptome von 1., 2. und 3. vorliegen, davon mindestens zwei von 1. und mindestens je eins von 2. und 3.:

1. Qualitative Auffälligkeiten der gegenseitigen sozialen Interaktion in mindestens zwei der folgenden Bereiche:

a) Unfähigkeit, Blickkontakt, Mimik, Körperhaltung und Gestik zur Regulation sozialer Interaktionen zu verwenden

b) Unfähigkeit, Beziehungen zu gleichaltrigen aufzunehmen, mit gemeinsamen Interessen, Aktivitäten und Gefühlen (in einer für das geistige Alter angemessenen Art und Weise trotz hinreichender Möglichkeiten)

c) Mangel an sozio-emotionaler Gegenseitigkeit, die sich in einer Beeinträchtigung oder derivanten Reaktion auf die Emotionen anderer äußert; oder Mangel an Verhaltensmodulation entsprechend dem sozialen Kontext; oder nur labile Integration sozialen, emotionalen und kommunikativen Verhaltens

d) Mangel, spontan Freude, Interessen oder Tätigkeiten mit anderen zu teilen (z.B. Mangel, anderen Menschen Dinge, die für die Betroffenen von Bedeutung sind, zu zeigen, zu bringen oder zu erklären).

2. Qualitative Auffälligkeiten der Kommunikation in mindestens einem der folgenden Bereiche:

a) Verspätung oder vollständige Störung der Entwicklung der gesprochenen Sprache, die nicht begleitet ist durch einen Kompensationsversuch durch Gestik, Mimik als Alternative zur Kommunikation (vorausgehend oft fehlendes kommunikatives Geplapper)

b) relative Unfähigkeit, einen sprachlichen Kontakt zu beginnen oder aufrechtzuerhalten (auf dem jeweiligen Sprachniveau), bei dem es einen gegenseitigen Kommunikationsaustausch mit anderen Personen gibt.

c) Stereotype und repetitive Verwendung der Sprache oder idiosynkratischer Gebrauch von Worten oder Phrasen

d) Mangel an verschiedenen spontanen Als-ob-Spielen oder (bei jungen Betroffenen) sozialen Imitationsspielen

3. Begrenzte, repetitive und stereotype Verhaltensmuster, Interessen und Aktivitäten in mindestens einem der folgenden Bereiche:

a) Umfassende Beschäftigung mit gewöhnlich mehreren stereotypen und begrenzten Interessen, die in Inhalt und Schwerpunkt abnorm sind, es kann sich aber auch um ein oder mehrere Interessen ungewöhnlicher Intensität und Begrenztheit handeln.

b) offensichtlich zwanghafte Anhänglichkeit an spezifische, nicht funktionale Handlungen oder Rituale

c) stereotype und repetitive motorische Manierismen mit Hand- und Fingerschlagen oder Verbiegen, oder komplexe Bewegungen des ganzen Körpers

d) vorherrschende Beschäftigung mit Teilobjekten oder nicht funktionalen Elementen des Spielmaterials (z.B. ihr Geruch, die Oberflächenbeschaffenheit oder das von ihnen hervorgebrachte Geräusch oder ihre Vibration).

C. Das klinische Bild kann nicht einer anderen tiefgreifenden Entwicklungsstörung zugeordnet werden, einer spezifischen Entwicklungsstörung der rezeptiven Sprache (F80.2) mit sekundären sozio-emotionalen Problemen, einer reaktiven Bindungsstörung (F94.2), einer Bindungsstörung mit Enthemmung (F94.2), einer Intelligenzminderung (F70 – F72), mit einer emotionalen oder Verhaltensstörung, einer Schizophrenie (F20) mit ungewöhnlichem Beginn oder einem Rett-Syndrom (F84.2).


ICD-10 Forschungskriterien für das Asperger-Syndrom (F84.5)
A. Es fehlt eine klinisch eindeutige allgemeine Verzögerung der gesprochenen oder rezeptiven Sprache oder kognitiven Entwicklung. Die Diagnose verlangt, dass einzelne Worte bereits im zweiten Lebensjahr oder früher und kommunikative Phrasen im dritten Lebensjahr oder früher benutzt werden. Selbsthilfefertigkeiten, adaptives Verhalten und die Neugier an der Umgebung sollten während der ersten drei Lebensjahre einer normalen intellektuellen Entwicklung entsprechen. Allerdings können Meilensteine der motorischen Entwicklung etwas verspätet auftreten und eine motorische Ungeschicklichkeit ist ein häufiges (aber kein notwendiges) diagnostisches Merkmal. Isolierte Sprachfertigkeiten, oft verbunden mit einer auffälligen Beschäftigung sind häufig, aber für eine Diagnose nicht erforderlich.

B. Qualitative Beeinträchtigungen der gegenseitigen sozialen Interaktion (entsprechend den Kriterien für Autismus).

C. Ein ungewöhnlich intensives umschriebenes Interesse oder begrenzte, repetitive und stereotype Verhaltensmuster, Interessen und Aktivitäten (entspricht dem Kriterium für Autismus, hier sind aber motorische Manierismen, ein besonderes Beschäftigsein mit Teilobjekten oder nicht-funktionalen Elementen von Spielmaterial ungewöhnlich).

D. Die Störung ist nicht mit einer anderen tiefgreifenden Entwicklungsstörung, einer schizotypen Störung (F21), einer Schizophrenia simplex (F20.6), einer reaktiven Bindungsstörung des Kindesalters oder einer Bindungsstörung mit Enthemmung (F94.1 und F94.2), einer zwanghaften Persönlichkeitsstörung (F60.5) oder einer Zwangsstörung (F42) zuzuordnen.